Zeitreise ins Jahr 1996: Edgar Hess trainiert Wacker

"Fußballer sind wie Farben, und die muss man richtig mischen"

(wh) - Im 21. Teil unserer Zeitreise drehen wir das Rad zurück in die Mitte der 90er-Jahre, als mit Edgar Hess eine vormaliger russischer Nationalspieler den FC Wacker trainierte und die Mannschaft rasch zu einem Spitzenteam der Landesliga formte. Dessen ungeachtet wurde er schon nach eineinhalb Jahren - mit dem FCW auf Platz zwei liegend - gefeuert. Aber das ist eine andere Geschichte. Stattdessen hier ein Porträt über ihn, das die Schwäbische Zeitung anno 1996 brachte. Verfasst wurde es von einem freien Mitarbeiter und jungen Mann namens Martin Gerster, heute Bundestags-Abgeordneter der SPD.

Zweifelsohne: Diesem Mann kann man stundenlang zuhören: Fußball-Weisheiten gibt es bei ihm zuhauf, dazu noch nett verpackt in einem Deutsch, das durch russsische und schwäbische Dialekteinflüsse zum einzigartigen "hess-isch" wird.

"Trink nicht so viel! Was meinst du, was du nachher mit Wassserbauch wiegst?" Solche und ähnliche, teils barsche Anweisungen gibt Hess seinen Spielern immer wieder. Diese werden offenbar verstanden, der Erfolg gibt ihm recht. Den FC Mittelbiberach führte er von der Kreis- in die Bezirksliga, und das Landesliga-Team des FC Wacker Biberach hat unter seiner Leitung Aufwind.

Ein bis dato geheimes Erfolgsrezept? Fehlanzeige. "Was ich von den Spielern will, ist, dass der Fußball bei ihnen eine Hauptrolle spielt und man nicht nur einfach so seine Zeit mit ihm verbringt", offenbart Hess. Fußball ist wichtig wie andere Dinge im Leben." Spricht's und zerrt eine Zeitschrift aus einer Schublade: Eine deutsche Sportzeitung aus dem Jahr 1979 präsentiert per Großfoto einen offensichtlich dribbelstarken Blondschof, der - so wörtlich "binnen weniger Wochen in Moskau zum Publikumsliebling wurde. Er ist enorm schnell und verfügt über gute Schusskraft."

Edgar Hess, der in der Sowjetunion Gess hieß und dort Diplominstituts-Sportlehrer war (was einem deutschen Hochschuldozentn gleichkommt), zeigt dann Wimpel über Wimpel, von Aston Villa, über Dynamo Moskau, vom 1. FC Kaiserslautern bis hin zu Real Madrid.

Mit sechs Jahren schnürte Edgar Hess schon seine Kickstiefel in einer Fußballschule, sein älterer Bruder Albert war dort Trainer. "Aber nicht Hobby wie bei uns, sondern jeden Tag viele Stunden", so Hess. Ein - so Hess in hess-isch - "unbekanntlicher Mensch" habe ihn dann für die Aktiven von Pamir Durschanbe entdeckt. Mit 17 Jahren war Hess schon Stammspieler in der zweiten russischen Staatsliga, die der hiesigen Landesliga entspricht.

Zum großen Sprung verhalf ihm dann Konstantin Beskov. Der damalige Trainer der international so erfolgreichen Spitzenmannnschaft Spartak Moskau verpflichtet Hess 1979. Hess wurde in der sowjetischen Hauptstadt zum Star und ins Nationalteam berufen.

"Was Barcelona heute spielt, haben wir unter Beskov schon vor 15 Jahren gespielt. Arsenal London haben wir auswärts 5:0 geschlagen und gegen Real Madrid 0:0 gespielt", erinnert sich Hess.

Eine von Beskovs Metaphern ist Hess offensichtlich in Fleisch und Blut übergegangen: "Fußball ist wie ein Bild malen. Ich sehe das Bild, das ich malen will, vor mir. Zum Malen brauche ich Farben, also Spieler. Wenn ich alle Farben habe, muss ich sie mischen und verteilen, dass das Bild schön wird." Wenn Farbe in einer Mannschaft fehle, müsse sie eben besorgt werden. Das Mischen der Farben geschieht demnach im Training: Dort müssten die Spieler lernen, schnell zu erkennen, was aus der Situation zu machen sei und wie man sich auf dem Feld verteilen müsse.

"Wer richtig gut Fußball spielen will und kann, muss intelligenter sein als ein Computer", gilt für den Internationalen. Und weil eben Flachpässe schneller zu stoppen seien, schwört Hess auf hundertprozentiges Flachpass-Spiel. "Das Spiel wird immer schneller, und ich muss mich fragen, wo kann ich den Ball schneller stoppen, und das ist am Boden." Seine Wacker-Schützlinge schwören auf ihren Coach. Spielmacher Holger Weiß, der früher nicht gerade als lauffreudig galt, rennt sich unter Hess plötzlich die Lunge aus dem Leib. "Der Edgar hat mir beigebracht, wohin ich laufen muss. Meine Wege sind jetzt nicht mehr wie früher für die Katz."

Weiß hat kapiert, was Hess erwartet. "Wenn der Ball kommt, muss man eben schon entscheiden, wie es weitergeht. Wer zu lange an das Ballstoppen denkt, der hat schon verloren", so Hess, der am liebsten täglich zweimal mit seinen Spielern auf den Platz gehen würde und mit Videoanalysen versucht, die Fehler seiner Mannen auszumerzen.

Mit dem FC Wacker hat Hess noch Großes vor. Das jetzt geformte Team soll die Leistung in der nächsten Saison stabilisieren und dann weit nach vorne stoßen.

Und so mitten im Erzählen wirft Hess seinen Blick auf die Uhr. "Ich muss gehen", sagt Hess und meint typisch "hess-isch": "Ich muss noch schwätzen mit Spielern über Spiel" und geht.

Hess ist 1954 in der Sowjetunion geboren. Schon mit 17 spielt er bei Pamir Duschanbe in der zweiten russischen Staatsliga. 1979 wechselte er zu Spartak Moskau, gewann einmal die sowjetische Meisterschaft, wurde dreimal Zweiter und einmal Dritter. Außerdem stand er einmal im sowjetischen Pokalfinale und erzielte in 35 UEFA-Pokalspielen sieben Tore für Spartak.

Als Nationalspieler war er bei der WM 1982 in Spanien dabei. 1989 kam er nach Deutschland und spielte für den FV Biberach. Nach dem Ende seiner Laufbahn trainierte er ab 1991 den FC Mittelbiberach, ehe er vom Sommer 1995 bis ans Ende des Jahres 1996 bei Wacker das Sagen hatte. Weitere Trainer-Stationen im Kreis Biberach folgten: erneut beim FC Mittelbiberach, zudem beim SV Ochsenhausen, Türkspor Biberach und beim FV Biberach.

Im Jahr 2004 kehrte Hess zurück in den Profifußball, als er kurzzeitig den Trainerposten beim kasachischen Erstligisten Zesna Almaty übernahm. Anschließend ging Hess in den Kaukasus, wo er bis 2005 die russische Mannschaft Alanija Wladikawkas übernahm. Von 2005 bis 2006 folgte ein Intermezzo bei Vėtra Vilnius. Im selben Jahr wechselte er dann nach Usbekistan, wo er bis 2007 zuerst den FK Andischan und dann bis 2011 Schurtan Gusar trainierte. Danach verliert sich seine fußballerische Spur.    

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